Michail Bakounine, Œuvres complètes. CD-ROM, hg. v. International Institute of Social History, Netherlands Institute for Scientific Information Services u. Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences (Amsterdam 2000). ISBN 90-6984-303-x.

Mit der hier vorzustellenden CD-ROM kommt die Bakunin-Edition nach mehr als 100 Jahren zu einem gewissen Abschluß. Die Anfänge gehen auf das Jahr 1895 zurück, das als Geburtsstunde der Bakunin-Edition anzusehen ist. Damals wurden bekanntlich der erste Band der Oeuvres, ediert von Max Nettlau, und Michail Bakunins Sozial-politi­scher Briefwechsel mit Alexander Iv. Herzen und Ogarjow veröffentlicht.1 Maßstäbe setzten seit 1961 die von Arthur Lehning herausgegebenen Archives Bakounine, von denen bis 1981 sieben Bände erschienen. Die Schriften und Briefe Bakunins wurden darin in der Originalsprache und – falls diese nicht französisch war – in einer französischen Übersetzung gegliedert nach inhaltlichen Schwerpunkt­themen ausführlich kommentiert dargeboten. Im Anhang jedes Bandes wurden auch Quellen des historischen Umfelds publiziert. Über diese Druckausgabe, die unvollständig blieb, geht die jetzt erarbeitete CD-ROM-Ausgabe hinaus. Sie erschließt den gesamten Nachlaß von Bakunin, Werke, Schriften und Briefe.

Aufgrund sorgfältiger Recherchen in zahlreichen Archiven hat die CD-ROM 364 Schriften, 1232 Briefe und 153 weitere Dokumente Bakunins aus dem Zeitraum 1823 bis 1876 zum Inhalt. Die CD-ROM enthält hunderte von Texten, die noch nie veröffentlich wurden, viele erstmals in der Originalsprache. So wird hier beispielsweise der bisher unbekannte Brief an Proudhon vom Dezember 1848 veröffentlicht. Interessant sind auch die erstmals im Original publizierten Manuskripte im Zusammenhang mit den leidigen Vorwürfen gegen Bakunin in der Neuen Rheinischen Zeitung im Juli 1848. Alle Texte werden in der Originalsprache (neun Sprachen) und in französischer Übersetzung dargeboten, soweit möglich werden die Originale als Faksimile unmittelbar beigegeben. Alle Dokumente wurden mit Umsicht und Sorgfalt ediert. Es handelt sich um kein Ergänzungsprodukt, wie viele andere CD-ROM-Ausgaben. Die dargebotenen Texte liegen nicht gesondert in einer gedruckten Ausgabe vor. Der Umfang der hier publizierten Originaltexte Bakunins stellt ohne Zweifel eine Sensation dar, wofür allein sich die jahrelange Arbeit gelohnt hat.

Die CD-ROM unterliegt aber auch deutlichen Beschränkungen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß alle Briefe Dritter an Bakunin fehlen. Dies ist vor allem deshalb zu bedauern, da sich in der Editionswissenschaft schon seit Jahrzehnten die Auffassung durchgesetzt hat, daß aufgrund des dialogischen Charakters jedes Briefwechsels die Veröffentlichung der Gegenbriefe eigentlich unabdingbar ist. Dies gilt insbesondere für den Briefwechsel eines Mannes, der gerade im Dialog seine Wirkung entfaltete. Ferner erhält der Nutzer der CD-ROM – im Gegensatz zu den ausführlich eingeleiteten und kommentierten Bänden der Archives Bakounine – keine editorischen Erklärungen, die über den unmittelbaren Quellennachweis hinausgehen. Der CD-ROM wurden immerhin eine kurze Biographie Bakunins, eine ausführlichere Bibliographie und Kurzbiographien seiner Korrespondenzpartner beigegeben. Die Möglichkeiten des optisch-digitalen Speichermediums CD-ROM werden genutzt, um interessierten Wissenschaftlern, aber auch Schülern, Studenten und anderen Interessenten in einer Art Text-Datenbank alle Bakunin-Doku­mente verfügbar zu machen. Zum intensiven Lesen und Studium der Dokumente verführt diese Art der Textdarbietung natürlich nicht, ein Mangel, der vielleicht noch durch die Herausgabe von ausgewählten Studienbänden ausgeglichen werden kann.

Als eine Alternative zu herkömmlichen historisch-kritischen Editionen kann die hier vorgelegte CD-ROM-Ausgabe weder unter editorischen noch unter technischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die Entscheidung, statt wie noch in den gedruckten Archives Bakounine in der CD-ROM-Ausgabe auf einen historisch-kritischen Apparat zu verzichten, war eine wissenschaftspolitische und wahrscheinlich in erster Linie von finanziellen Gesichtspunkten bestimmte. Sie ist zu bedauern, da angesichts der komplizierten Überliefungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes von Bakunin der Verzicht auf jeden kritischen Apparat schwer wiegt. Unverständlich ist, warum der CD-ROM nur eine allzu kurze Einführung beigegeben wurde. Hier hätte man doch zumindest ausführlicher die getroffenen editorischen Entscheidungen erläutern und Hinweise zur Editionsgeschichte geben können. Aber auch der Übergang zu dem noch relativ jungen Medium CD-ROM stellt keine wirkliche Alternative zur Druckausgabe dar. Denn auch Editionen, die – wie die MEGA – eine Druckausgabe sind, müssen ihre Dokumente inzwischen so elektronisch aufbereiten, daß sie jederzeit für eine CD-ROM- oder sogar eine Online-Ausgabe zur Verfügung gestellt werden können. Entscheidend ist, daß die computergestützte Eingabe und Aufbereitung der Texte Plattform-un­ab­hängig und struk­turiert unter Beachtung internationaler Standards erfolgt. Eine spätere Neuerfassung der Texte darf nicht mehr not­wen­dig sein, und jede Weiterverwendung muß auf diesen strukturierten Textdaten aufsetzen können. In der hier besprochenen CD-ROM-Ausgabe liegen alle Textdaten im RTF-Format vor, einem von Microsoft entwickelten Austausch­format, das sich nicht mit den inzwischen üblichen Standards wie SGML oder XML vergleichen läßt.

Als Nutzer einer CD-ROM sieht man sich sehr schnell mit bisher ungekannten Schwierigkeiten konfrontiert. So sind bestimmte technische Voraussetzungen notwendig, ohne die sich die beste CD dem Leser verschließt. Im Falle der hier anzuzeigenden CD-ROM gehört zur notwendigen Grundausstattung ein IBM-kompatibler Computer mit mindestens einem 486er Prozessor und 8 MB RAM sowie vor allem mit einem möglichst leistungsstarken CD-ROM-Laufwerk; ein Farbmonitor ist zu empfehlen. Die CD-ROM wird komplett lauffähig ausgeliefert, alle zur Informationsabfrage erforderlichen Programme werden auf dem Datenträger mitgeliefert. Nach dem Starten der CD erscheint, voreingestellt, die Standardsuchmaske, von der aus auch der eher ungeübte Benutzer leicht zu ersten Ergebnissen kommen kann. Alle Dokumente werden zwar in der Originalsprache und in französischer Übersetzung dargeboten, gesucht werden kann aber nur in der französischen Fassung. Kopien von einzelnen Absätzen oder ganzen Dokumenten können nicht unmittelbar in die Zwischenablage übernommen werden, sondern müssen mittels einer gesonderten Exportfunktion im RTF-Format angefertigt werden. Der recht hohe Preis (995.00 NLG) dürfte der Nutzung durch einen breiteren Käuferkreis im Wege stehen. Man wird also hoffen müssen, daß möglichst viele Bibliotheken die CD-ROM anschaffen.

Jürgen Herres

1Vgl. ausführlich Wolfgang Eckhardt, Michail A. Bakunin (1814–1876). Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur in deutscher Sprache. (Köln 1994). S. 7–9.