Richard Biernacki: The Fabrication of Labor. Germany and Britain, 1640-1914. Berkeley and Los Angeles: University of California Press 1995. (Studies on the History of Society and Culture, ed. by Victoria E. Bonnell and Lynn Hunt, 22). 569 Seiten.

Veröffentlicht in: MEGA Studien. Amsterdam 1996/2. S. 134-138.

Karl Marx betrachtete bekanntlich als einen seiner wichtigsten Beiträge zur politisch-ökono­mi­schen Theorie seine Unterscheidung zwischen Arbeit und Arbeitskraft und seine Entdeckung, daß der Arbeitslohn als „irrationelle Erscheinungsform eines dahinter versteckten Verhältnisses“ zu sehen sei. Wie er am 8. Januar 1868 Friedrich Engels schrieb, sei „den Ökonomen ohne Ausnahme das Einfache“ entgangen, „daß, wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen“ müsse. Die „bloße Analyse auf Arbeit sans phrase wie bei Smith, Ricardo etc.“ müsse gegenüber seiner „grundneuen“ Erkenntnis „überall auf Unerklärliches stoßen“. Bekanntermaßen verkaufen im Marxschen Schema die Arbeiter nicht Arbeit (d.h. Leistungen), sondern ihre Arbeitskraft, deren Wert wiederum gleich der in ihr verkörperten Anzahl von Arbeitsstunden ist, d.h. der gesellschaftlich notwendigen Menge an Arbeitsstunden, die erforderlich ist, um den Arbeiter aufzuziehen, zu schulen, zu ernähren, unterzubringen usw. Der Arbeiter erhält den vollen Wert seiner Arbeitskraft, deren Konsum durch den Kapitalisten wiederum diesem Mehrwert schafft.

In der hier zu besprechenden materialreichen und höchst anregenden Studie, in der sich der US-amerikanische Soziologe Richard Biernacki mit der Herausbildung des in Deutschland und Großbritannien jeweils unterschiedlichen nationalen Verständnisses von moderner Fabrikarbeit beschäftigt, wird Marx als einflußreicher Repräsentant der deutschen Theorie- und Begriffsbildung herausgestellt. Marx’ kritische Methode auf diesen selbst anwendend, betont Biernacki, daß Marx’ politisch-ökono­mi­sche Theoriebildung stärker durch die deutschen Verhältnisse geprägt war, als dieser es sich jemals hätte vorstellen können. Marx entwickelte zwar seine wirtschaftspolitische Theorie in England und auf der Grundlage englischen Materials, aber er blieb seinem deutschen kulturellen Hintergrund verpflichtet (v.a. S. 311). Der Begriff der „Arbeitskraft“ fand bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den deutschen wirtschaftstheoretischen Debatten Verwendung. Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm nahmen den Begriff 1854 in ihr „Deutsches Wörterbuch“ auf und notierten darunter: „Man betrachtet den menschen mit seiner arbeitskraft wie eine waare, deren preis mit der menge des angebots und der nachfrage steigt und fällt“ (Bd. 1, Leipzig 1854, Sp. 544). Hermann Roesler (Biernacki schreibt irrtümlicherweise „Karl“ Roesler) ging über diesen Diskussionsstand hinaus und antizipierte die Marxsche Arbeitswertlehre bereits 1860 in seiner Dissertation „Über den Wert der Arbeit“ (veröffentlicht in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 16, 1860), die Biernacki allerdings entging, und seinem 1861 veröffentlichten Buch „Zur Kritik der Lehre vom Arbeitslohn“, also immerhin sechs bzw. sieben Jahre bevor Marx’ Werk in den Buchhandlungen lag. Roesler ging davon aus, daß es außer dem „äusseren“ auch einen „inneren, nothwendigen“ Tauschwert geben müsse, der „dem mercantilen oder Verkehrswerthe“ und den Güterpreisen zugrundeliegen müsse (Zur Kritik, S. 11). Dieser „innere oder natürliche Tauschwerth“ (ebd. S. 12) bestimme sich „nur nach dem Werthe der dabei aufgewendeten Arbeit“ und - damit unterschied er sich von Marx - „nach dem Werthe der Rente des dabei benützten Capitals“; wobei er allerdings letzteres auch wieder aufgelöst wissen wollte in Arbeit und Rente. Da „auch auf dem Arbeitsmarkte, nur Werthe gegen Werthe ausgetauscht“ würden, (ebd., S. 47), formulierte Roesler - ähnlich wie Marx 1867 - die Behauptung, „daß der Tausch­­­werth der Arbeit lediglich von der Höhe des sachlichen und persönlichen Aufwandes abhänge, der zu ihrer Herstellung und Fortentwicklung erforderlich ist; daß die natürlichen Fähigkeiten im Menschen keinen Bestandtheil dieses Werthes bilden... Auch wo ein Arbeiter eine höhere als die übliche Vergütung findet, ist es nicht consequent, diese Wirkung dem Vorhandensein ausserordentlichen Talents etc. zuzuschreiben; richtiger scheint es, hier nicht von der Erhöhung des Werthes, sondern des Preises durch die Existenz irgend eines künstlichen oder natürlichen Monopoles zu sprechen, oder auch von einer gewöhnlichen, in kürzerer oder längerer Zeit vorübergehenden Preisschwankung“ (ebd., S. 54). Ähnlich wie Marx ging Roesler von einem Dienst aus, den der Arbeiter dem Unternehmer dadurch leiste, „dass er durch seine Anstrengung und Thätigkeit productive Kräfte in das neue Product“ überleite (ebd., S. 65). Roesler, seit 1861 Professor für Staatswissenschaften in Rostock, zog ganz andere politische Schlußfolgerungen als Marx aus seinen wirtschaftstheoretischen Erkenntnissen. 1860/61 forderte er, daß der Arbeiter nicht als „blosser Durchgangscanal für productive Kräfte“, nicht nur als „blosses Erwerbsinstrument“, als „Maschine“, betrachtet werden dürfe und forderte für den Arbeiter neben dem „nothwendigen“ einen „freien“ Lohn. Nur so könne dem Arbeiter die „zeitweise Ungebundenheit von den Banden des Erwerbes“ (S. 63) ermöglicht werden, was ökonomisch gesehen letztlich auch dem Unternehmer zugutekomme. In den 1860er Jahren schloß sich Roesler den Sozialkonservativen um Hermann Wagener und dessen Berliner Revue an. Er wollte die Arbeit dem naturgesetzlichen Gewinninteresse des Kapitals entrissen und auf den Boden eines sozialen Rechts gestellt sehen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß Marx die Arbeiten Roeslers kannte. Da Marx von der spezifischen Rückständigkeit der Ökonomie und der ökonomischen Lehre in Deutschland zutiefst überzeugt war, hielt er deren Ergebnisse keiner größeren Beachtung für wert.

Biernacki begründet historisch, daß sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland und England ein unterschiedliches Verständnis der Arbeit als Ware herausgebildet hat. Dazu untersucht er die industrielle Praxis, wie sie sich in Arbeits- und Lohnverträgen, Arbeitskämpfen und betrieblichen Organisationsmaßnahmen niederschlug, die zeitgenössische Publizistik der Unternehmer- und Arbeiterorganisationen sowie zeitgenössische Wörterbücher und das zeitgenössische wirtschaftstheoretische Schrifttum in Großbritannien und Deutschland (insbesondere S. 213ff. und S. 259ff.) Während man sich in Großbritannien die mit der modernen Lohnarbeit zusammenhängenden Transaktionen als Verkauf von Arbeit vorstellte, die sich im vom Arbeiter geschaffenen Produkt materialisiere, gewann man - so Biernacki - in Deutschland die Vorstellung, daß der Arbeiter seine Arbeitskraft dem Unternehmer zur Verfügung stelle. Auch wenn Profit und Einkommen in den Austauschprozessen des Marktes realisiert wurde, ging man in Deutschland von einer Mehrwertschöpfung im Produktionsprozeß aus, und zwar indem der Unternehmer die ihm zur Verfügung gestellte Arbeitskraft nutzte. Arbeitskraft und Mehrwert unterstanden allein seiner Verfügungsgewalt. Aber der Arbeiter hatte einen Anspruch auf Entlohnung, auch dann wenn der Unternehmer dessen Arbeitskraft nicht nutzte; bereits die Bereitschaft des Arbeiters, seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, wurde arbeitsrechtlich als ausreichend angesehen. Biernacki betont, daß demgegenüber in England „the owner secured a surplus through an exchange relation set up by the trade of resources rather than in an immediate relation of domination, not through the owner’s command over the labor potential and person of the worker and not through the owner’s authority over social relations in the factory“ (S. 167). Der Autodidakt und staatswissenschaftliche Autor Theodor v. Bernhardi faßte die englische Sicht 1849 so zusammen: „Die Arbeit wird hier gleichsam als ein Product gedacht.“ (Zitiert S. 278).

Diese unterschiedlichen Begriffe und Vorstellungen, die sich in den frühen Tagen des Fabriksystems in Deutschland und England herausgebildet hatten, hatten nach Biernacki in erster Linie kulturelle, nicht technische oder organisatorische Ursachen. Um dies belegen zu können, konzentriert sich Biernacki bei seiner Quellen- und Materialsuche insbesondere auf die Wollindustrie, die in beiden Ländern grundlegende Gemeinsamkeiten in Entwicklung, technischer Ausstattung, betrieblicher und gewerkschaftlicher Organisationsbildung aufwies. So ging in England und in Deutschland die Wollindustrie im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast gleichzeitig und damit relativ spät zur Fabrikarbeit über - im Unterschied insbesondere zur Baumwollindustrie. Vor allem im Fortwirken feudaler Traditionen in Deutschland sieht Biernacki eine der Ursachen für die unterschiedlichen Auffassungen über die Arbeit als Ware. Während man in England wie selbstverständlich davon ausging, daß sich die moderne Form der Arbeit als Ware schon früh sowohl im Kleingewerbe als auch in der Fabrikindustrie durchgesetzt habe, stimmten in Deutschland Unternehmer und Arbeiter darin überein, daß die Arbeit (besser: Arbeitskraft) nur in den Manufakturen und Fabriken zur Ware geworden sei. Wie Biernacki auch begriffsgeschichtlich zeigen kann, wurde in Deutschland das Neue, das moderne Fabrikarbeiterverhältnis, im Lichte des in einigen Teilen Deutschlands noch lebendigen Vorbildes der feudalen, abhängigen (Land‑)Arbeit wahrgenommen und dementsprechend nicht zuletzt als Unterordnungsverhältnis definiert. Diese unterschiedlichen kulturellen Definitionen der Lohnarbeit im Zeitalter der Fabrik blieben für den gesamten beobachteten Zeitraum wirkmächtig. Ihren Einfluß verfolgt Biernacki in so unterschiedlichen Bereichen wie der Entwicklung des Arbeitsrechts, den Veränderungen in der industriellen und gewerkschaftlichen Praxis sowie in der Ausprägung der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts.

Die Übereinstimmungen insbesondere zwischen Roesler und Marx sind offenbar bisher niemandem aufgefallen, weder Wilhelm Roscher, der Roesler in seiner „Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland“ von 1874 gerade eine Zeile widmete, noch Joseph Schumpeter, der Roesler immerhin als Verfasser einer „recht einflußreichen Geschichte der Lohntheorien“ nennt („Geschichte der ökonomischen Analyse“, 1965, Bd. I, S. 820), noch Roeslers Biographen, Anton Rauscher, der zumindest die beschriebenen Parallelen in seiner 1969 erschienenen Habilitationsschrift für nicht erwähnenswert hielt. Roesler blieb in Deutschland - wie Karl Marx - zeit seines Lebens ein Außenseiter. Dazu trug bei, daß Roesler 1878 vom Protestantismus zum Katholizismus übertrat. Dies hätte, wenn Roesler nicht kurz darauf als Regierungsberater nach Japan gegangen wäre, an der Rostocker Universität, die von ihren Professoren die Zugehörigkeit zum evangelisch-lutherischen Bekenntnis statuarisch verlangte, einen Skandal ausgelöst. In Japan war Roesler entscheidend an der Ent­stehung der Meiji-Verfassung und der Vorbereitung einer modernen Handelsgesetzgebung beteiligt. Bereits vor seiner Abfahrt nach Japan und dann später nach seiner Rückkehr nach Europa betätigte sich Roesler als vehement konservativer Kritiker des neuen Bismarck-Reichs. In seinen „Gedanken über den constitutionellen Werth der deutschen Reichsverfassung“ von 1877 und in seiner anonym veröffentlichten Broschüre „Die deutsche Nation und das Preußenthum“ von 1893 erwies er sich als ausgesprochener Gegner der preußischen Reichseinigung. Schließlich ließ seine 14jährige Abwesenheit von Europa ihn in der deutschen Wissenschaftslandschaft rasch in Vergessenheit geraten.

Das Buch Biernackis, dem eine preisgekrönte Dissertation von 1988 zugrundeliegt und dessen Bedeutung für die vergleichende Sozialgeschichte der Industrialisierung in Großbritannien und Deutschland hier nur angedeutet wurde, muß nicht zuletzt als ein überaus lesenwerter Beitrag zur kaum noch zu überschauenden Marx-Literatur bezeichnet werden.