Panikos Panayi: German Immigrants in Britain during the 19th Century, 1815-1914. Oxford, Washington D.C.: Berg 1995. 301 Seiten.

Als Karl Marx im Jahre 1849 nach London kam, hatte er die Vorstellung, nur ein paar Wochen, vielleicht auch Monate zu bleiben. Doch er blieb bis zu seinem Tode im Jahre 1883. Seine Kinder konnten sich schließlich nicht mehr vorstellen, in Deutschland zu leben. Seine Frau Jenny vertraute 1863 einer Freundin an: „Alle drei Kinder hängen mit Leib und Seele an London und sind in Sitten, Manieren, Neigungen, Lebensbedürfnissen und Gewohnheiten zu vollständigen Engländern geworden.“ Ähnlich wie Marx und seiner Familie erging es im 19. Jahrhundert vielen deutschen Oppositionellen und Auswanderern. Bis in die 1890er Jahre stellten Deutsche – nach den Iren – die größte Einwanderergruppe in England und Wales dar. Für viele von ihnen wurde das Gastland, das sie zwar meist mit korrekter Höflichkeit behandelte, ihnen aber so gut wie gar nicht entgegenkam, zur zweiten Heimat. Erst nach 1900 trat – nach Panayi – an die Stelle milder Gleichgültigkeit ökonomisch und politisch bedingte „Germanophobia“.

Aus- und Einwanderung sind im 19. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, als zentrale Vorgänge der europäischen Sozialgeschichte zu betrachten und werden inzwischen auch entsprechend ihrer Bedeutung intensiv erforscht. Mit der hier zu besprechenden Geschichte der deutschen Einwanderung in Britannien legt Panayi eine Zwischenbilanz vor. Sie bietet viele Hinweise auf entlegene Veröffentlichungen und Archivalien zur deutschen Einwanderung, aber auch zur Migrationsforschung insgesamt.

In einem ersten, einleitenden Kapitel geht Panayi kurz auf die Vorgeschichte der deutschen Kolonie seit dem frühen Mittelalter ein. Deutsche wanderten seit Menschengedenken nach England aus. Im 19. Jahrhundert stellte deshalb ihre Einwanderung zwar keine neue Erscheinung dar, aber aufgrund der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Liberalität Britanniens erhöhte sie sich erheblich. Zwischen 1815 und 1930 verließen etwa 4,8 Millionen Deutsche ihr Heimatland. Nur ein kleiner Teil von ihnen blieb in Britannien, in den 1860er Jahren beispielsweise von den preußischen Auswanderern gerade zwei Prozent. Über die deutsche Bevölkerung in Britannien sind leider nur für die zweite Jahrhunderthälfte genauere Angaben überliefert. In England und Wales lebten zwischen 28.600 (1861) und 50.600 (1891) bzw. 65.300 (1911) Deutsche.

In den folgenden drei Kapiteln analysiert Panayi Gründe und Motive für die deutsche Aus- bzw. Einwanderung, behandelt die soziale Gliederung der deutschen Einwanderer und untersucht eingehend ihre Aktivitäten in religiöser, wohltätiger, gewerkschaftlicher und politischer Hinsicht. In einem letzten Kapitel behandelt Panayi dann die Entwicklung der britischen öffentlichen Meinung. Ausschlaggebend für die Aus- bzw. Einwanderung war eine Vielfalt von Gründen. Panayi sieht aber vor allem wirtschaftliche Faktoren am Werk. Die politischen Flüchtling, zu denen ja auch Marx und seine Familie zählten, stellten letztlich nur eine kleine Minderheit dar. Die englischen Polizeibehörden errechneten 1852 1.500 deutsche politische Flüchtlinge in London, angesichts der 10.237 Deutschen, die damals in der englischen Metropole amtlich gezählt wurden, wäre dies eine beachtliche Zahl gewesen. Der preußische Botschafter von Bunsen ging allerdings von einer erheblich niedrigeren Zahl aus. 1851 sprach er – und kam damit der Realität wahrscheinlich näher – von rund 300 deutschen Flüchtlingen, die sich in unterschiedlichen demokratischen Vereinen zusammengeschlossen haben sollen. Da die Hoffnungen auf einen erneuten Ausbruch der Revolution nach 1849 oft rasch einem Gefühl hoffnungslosen Stagnierens gewichen waren, hatten zahlreiche Oppositionelle ihre Flucht in die USA fortgesetzt.

Die deutschen Einwanderer bildeten gerade in den größeren britischen Städten, vor allem in Liverpool, in Manchester, in Bradford und in einigen Teilen Londons, ausgeprägte Gemeinden. Allein in London lebten mehr als die Hälfte der Deutschen. Sie gründeten ihre eigenen Organisationen und schufen ein vielfältiges Vereinswesen. Voraussetzung dafür war allerdings, daß sie sich in Britannien politisch und gesellschaftlich freier betätigen konnten als in jedem anderen europäischen Land. Panayi geht von einem ‘Konzept der Ethnizität’ aus, das zwar in der US-amerikanischen Forschung schon lange akzeptiert wird, in Europa aber nur zurückhaltend rezipiert wird. Er versteht deshalb die deutschen Einwanderer – trotz ihrer großen sozialen Klassendifferenzierung – vor allem als ethnische Gruppe, die ihre auf gemeinsamer Abstammung, Geschichte und Kultur basierende kollektive Identität zu wahren und zu befestigen versuchte. Zu kurz kommt in Panayis Überblick allerdings, daß es sich bei einer ethnischen Gruppenbildung zunächst und in erster Linie um einen kulturellen Konstruktionsprozeß handelt, der nicht von vornherein gegeben und unveränderbar war. Für jeden Interessierten, der sich einen Überblick über die Migrationsforschung und die deutsche Einwanderung im besonderen verschaffen will, bietet Panayi einen nützlichen sozialgeschichtlichen Einstieg.